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  • AutorenbildMarie-Avril Roux Steinkühler

🇩🇪 - «Dialog der Karmelitinnen»: Eine Hommage an die schöpferische Freiheit des Regisseurs

Die Schlussszene der Oper von Francis Poulenc nach einem Libretto von Georges Bernanos, eine Szene, die einen Höhepunkt des Werkes darstellt, zeigt die Karmelitinnen, die sich während der französischen Revolution weigern, ihrem Glauben abzuschwören und das Martyrium auf sich nehmen – nacheinander steigen sie aufs Schafott und verschwinden beim Gesang des Salve Regina und dann des Veni Creator. Blanche de la Force, die dieses Gelübde verweigert hat, schließt sich ihnen dennoch an.


Backstage, Komische Oper, Berlin
Backstage, Komische Oper, Berlin © Marie-Avril Roux

Doch in der streitigen Inszenierung präsentiert Dimitri Tcherniakow, der für seine unkonventionellen Interpretationen berühmt ist, eine Holzbaracke, die von einer durch ein Sicherheitsband auf Abstand gehaltenen Menge umgeben wird und in der die Nonnen eingeschlossen sind. Unter dem aufgezeichneten Gesang der Nonnen rettet Blanche de la Force nacheinander alle Nonnen vor dem Ersticken und schließt sich in der Baracke ein, die kurz darauf explodiert. Das Geräusch des herabsausenden Fallbeils in der Oper von Poulenc, das bei jedem Versterben erklingt, unterstreicht hier jede Rettung.


In einer Entscheidung vom 13. Oktober 2015[1] war die Cour d’appel de Paris (Pariser Berufungsgericht) im Gegensatz zur Vorinstanz zu dem Schluss gekommen, dass der Geist des Werkes durch die Inszenierung von Dimitri Tcherniakow an der Bayerischen Staatsoper in München im Jahr 2010 – obwohl das Libretto und die Musik respektiert wurden – entstellt werde.


Diese von der früheren Rechtsprechung abweichende und mit schweren Strafen versehene höchst umstrittene Entscheidung ist am 22. Juni 2017 aufgehoben worden.


Aufhebungsgründe: Die Feststellungen der Cour d’appel stehen im Widerspruch zu der vertretenen Entstellung (1). Die verhängten Strafen missachten die Anwendung der Verhältnismäßigkeitskontrolle und der Suche nach einer angemessenen Abwägung zwischen den betroffenen Grundfreiheiten (2).


1. Die Feststellungen des Cour d’appel stehen im Widerspruch zu der vertretenen Entstellung


In ihrem Urteil vom 13. Oktober 2015 war die Cour d’appel de Paris zu der Ansicht gelangt, die Inszenierung von Dimitri Tcherniakow entstelle „den Geist des Werkes“.


Dies ist paradox, denn sie hatte zuvor betont, dass „die streitige Inszenierung weder die Dialoge, die in diesem Teil der bereits bestehenden Werke fehlen, noch die Musik verändere. In der Tat sei die Musik gemeinsam mit dem religiösen Gesang und dem Geräusch des Fallbeils, das in der Oper von Francis Poulenc jedes Versterben begleitet, übernommen worden“. Mit anderen Worten, die Elemente des Werkes waren nicht verändert worden und die Unversehrtheit des Werkes wurde respektiert.


In demselben Sinn räumte die Cour d’appel ein, der Regisseur „respektiere die Themen Hoffnung, Martyrium, Gnade, Weitergabe der Gnade und Gemeinschaft der Heiligen, die den Urhebern des ersten Werkes wichtig waren“.


Und dennoch urteilte sie, das Werk wäre entstellt worden. Diese Begründung findet ihre Berechtigung im Urheberrecht, wo zwischen rein materiellen Elementen und sogenannten „kontextuellen“ Elementen unterschieden wird.


Den Berufungsrichtern zufolge hatte die Inszenierung den Sinn des Werkes entstellt. Indem die Befreiung der Nonnen skandiert wird, anstatt der Tod, wie es im Werk von Bernanos und Poulenc ursprünglich vorgesehen war, stelle das Geräusch der Guillotine, so wie Dimitri Tcherniakow es benutzt, eine Entstellung des ursprünglichen Werkes dar.


Der Kassationsgerichtshof rügt zu Recht nicht den Kern, sondern die Widersprüchlichkeit der Begründung der Cour d’appel. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Cour d’appel de Versailles, an die die Rechtssache verwiesen worden war, nicht der Auffassung sein könne, das Werk sei entstellt, doch die Anwendung ist schwierig und die Begründung muss sehr stichhaltig sein.


Dabei darf der Richter jedoch kein „Zensor“ werden! In der französischen Rechtslehre – die darin zum Teil von der Musikkritik bestätigt wird[2] - wird mehrheitlich die Auffassung vertreten, Dimitri Tcherniakow habe „sich große Freiheiten mit der Oper herausgenommen[3] ». Und Christophe Caron fügt hinzu, die Cour d’appel Versailles „darf nicht vergessen, dass auch Opernautoren ein Urheberrecht besitzen, das nicht systematisch auf dem Altar des Urheberrechts des Regisseurs geopfert werden darf. Die Oper ist kein untergeordnetes Werk, das man straffrei verändern kann. Ihre Urheber besitzen kein geschmälertes Urheberrecht (…)[4] ».


Steht der Regisseur im Dienste des Werkes oder ist er ein neuer Urheber eines sog. „composite“ Werkes (die „oeuvre composite“ auf Französisch ist ein aus einem bereits existierenden Werkes abgeleitete Werk), oder soll er eher als ausübender Künstler seiner eigenen Interpretation des Werkes bezeichnet werden?


2. Die von der Cour d’appel verhängten Strafen beruhen aufgrund der mangelnden vorherigen Verhältnismäßigkeitskontrolle auf keiner Rechtsgrundlage


In ihrem Urteil vom 13. Oktober 2015 hat die Cour d’appel äußerst schwere Strafen verhängt – die einer Zensur gleichkommen könnten – indem sie „anordnete, die Gesellschaft Bel Air Media und das Land Bayern müssen, unter Androhung von Zwangsmitteln, alle Maßnahmen ergreifen, damit die kommerzielle Veröffentlichung und allgemein die Herausgabe weltweit unverzüglich eingestellt wird, und zwar einschließlich der öffentlichen Wiedergabe des streitigen Videofilms im Internet; und der Gesellschaft Mezzo unter Androhung von Zwangsmitteln untersagte, den Videofilm weltweit im Fernsehen zu übertragen oder deren Übertragung zu dulden“.


Der Kassationsgerichtshof hat diese Entscheidung mit der Begründung aufgehoben, die Cour d’appel habe nicht geprüft „wozu sie aufgefordert war - inwieweit die Suche nach einer angemessenen Abwägung zwischen der schöpferischen Freiheit des Regisseurs und dem Schutz des Urheberrechts des Komponisten und des Autors ein Verbot rechtfertigt“.


Es ist interessant, festzustellen, dass der Kassationsgerichtshof im vorliegenden Fall den Artikel 10§2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten anführt und die Urteilsbegründung des Urteils Klasen aufgreift, ohne jedoch einen Hinweis zu ihrer Anwendung zu geben.


Er hätte auch zu der Auffassung gelangen können, die internationale Zuständigkeit des französischen Richters sei nicht unbeschränkt. Was das von der Cour d’appel verkündete Verbot betrifft, so ist dies eine drakonische, außergewöhnliche Maßnahme; in jedem Fall wäre eine schlichte Warnung an die Öffentlichkeit vorzuziehen gewesen. Vielleicht sollte man es dem Publikum überlassen, sich eine Meinung zu bilden?


Seit diesem Kassationsurteil hat die anfänglich verbotene Kommerzialisierung der audiovisuellen Aufzeichnungen der Inszenierung von Dimitri Tcherniakow in Form von Videofilmen wieder begonnen; die Rechtssache und die Parteien wurden an die Cour d’appel de Versailles zurückverwiesen. Fortsetzung folgt…



[1] CA Paris, 5. Abteilung, 1. Kammer, 13. Oktober 2015, Nr. 14/08900, Bernanos et a. c/ Opéra de Munich et a.

[2] C. Merlin, « Tcherniakov, un radical au tribunal », Le Figaro 4. Juli 2017

[3] Siehe hierzu insbesondere C. Caron, « «Les Dialogues des Carmélites» de nouveau devant la Cour de cassation », Communication Commerce Électronique, September 2017, Nr. 9, S. 1 bis 3 und E. Treppoz, «Commentaire sur l’arrêt du 22 juin 2017», Légipresse, September 2017, Nr. 352, S. 439 bis 441

[4] C. Caron, « «Les Dialogues des Carmélites» de nouveau devant la Cour de cassation», Communication Commerce Électronique, September 2017, Nr. 9, S. 1 bis 3

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