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  • AutorenbildMarie-Avril Roux Steinkühler

🇩🇪 - Dialogue des Carmélites – Die französische Liebe zum Urheberpersönlichkeitsrecht?

„Lebendig ist was lebt. Das ist Theater. Kein Museum.“ Diese Worte von Jean-Marc Proust [1] mögen zwar die Aufregung und Lebendigkeit des Theaters und der Oper verkörpern, ändern jedoch wenig an dem kürzlich gefällten Urteil des Pariser Berufungsgerichts. Dieses hatte am 13. Oktober 2015 Dmitri Tcherniakovs Neuinszenierung von Francis Poulencs Karmelitinnen nach dem Text von Georges Bernanos für verfälschend erklärt.


Opéra Bastille
© Florence Degoy-Vacher

Die Inszenierung, die seit 2010 in der Münchener Oper aufgeführt wurde, hatte sich laut dem Berufungsgericht „trotz ihrer Kürze und ohne jegliche Beurteilung über ihren Verdienst, weit von der ursprünglichen Interpretation des Werkes nach Poulenc und Bernanos entfernt und Letztere in einem entscheidenden Moment so stark verändert, dass dadurch der ursprüngliche Geist des Werkes verfälscht wurde.“ [2]


Das Gericht in Paris widerspricht damit den Richtern der ersten Instanz, betont allerdings zugleich, dass formale Elemente des Werkes, wie der Text, die Musik, die Regie und die Hauptthemen von Tcherniakov eingehalten wurden. Lediglich die Schlussszene verfälsche das Werk in seinem ursprünglichen „Geiste“. Das Schlüsselproblem liegt also am Ende des Stückes, um genau zu sein, in der Szene 17 des fünften Aufzugs von Bernanos Werk und im vierten Aufzug des dritten Aktes von Poulencs Opernlibrettos. In dieser Szene, so sieht es das Originalwerk vor, besteigen die während der französischen Revolution verurteilten Nonnen eine nach der anderen das Schafott und werden hingerichtet. Währenddessen singen sie Salve Regina und im Anschluss das Veni Creator. In Tcherniakovs Version hingegen, sind die Ordensschwestern in einer Holzbaracke eingeschlossen, um die sich eine Menschenmenge schart, die jedoch durch ein Sicherheitsband auf Abstand gehalten wird. Von dem aufgezeichneten Gesang der Nonnen begleitet, betritt Blanche de la Force die Bühne und befreit die Ordensschwestern. Diese entkommen, eine nach der anderen, aus der Baracke. Blanche schließt sich anschließend selbst in der Holzhütte ein, die kurz darauf explodiert. Während in der Originalfassung das wiederkehrende Geräusch der Guillotine die Hinrichtung der Nonnen bedeutet, so begleitet es in der Neuinszenierung die Rettung jeder einzelnen Ordensschwester. In diesem grundlegenden Unterschied in der Schlussszene sieht das Pariser Berufungsgericht sein Urteil begründet.


Das Gericht hatte nun ein landesweites Ausstrahlungsverbot der Videoaufzeichnung des Stücks mit Tcherniakovs Szene verhängt. Ein umstrittenes Urteil, das in manchen Teilen der Künstlerwelt durchaus auf Empörung stieß. Dort hieß es, das Urteil würde „die künstlerische Freiheit beschränken und die zeitgenössische Oper gefährden, die schon an sich einen Hang dazu habe, der Langeweile zu verfallen.“ [3]


Das Urteil lässt sich in zwei Punkten genauer analysieren: In einem ersten Schritt hinterfragt das Gericht bei seiner Entscheidung den Begriff „Geist des Werkes“ und kommt letztendlich zu dem Schluss, dass letzterer durch die Abschlussszene verfälscht worden sei, obwohl die restlichen formelles Kriterien alle eingehalten wurden (I). In einem zweiten Schritt entscheidet sich das Pariser Berufungsgericht die Inszenierung hart zu verurteilen und ein abruptes, landesweites Ausstrahlungsverbot zu verhängen(II).


1.Trotz Einhaltung der formellen Kriterien ist der „Geist des Werkes“ verfälscht


Obwohl das Pariser Gericht ausdrücklich bestätigt, dass sowohl die Musik als auch die Hauptthemen vom Originalwerk übernommen wurden, so sieht es in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov trotz Allem den „Geist des Werkes“ verfälscht. Doch ist eine solche Verurteilung gerechtfertigt? Leben nicht gerade die Oper und auch das Theater von Elementen, die sich mit der Zeit weiterentwickeln? Ist nicht gerade diese Weiterentwicklung, die Anpassung des Stückes an die neue, aktuelle Zeit die Aufgabe eines Opern- oder Theaterregisseurs?


Mit seiner Entscheidung, spricht sich das Berufungsgericht dafür aus, dass sich der „Geist“ eines Werkes auf die konkreten Absichten und Vorstellungen der Autoren zu ihrer Zeit beschränkt und nicht an einen neuen Kontext, an ein neues „Hier und Jetzt“, angepasst werden darf.


Natürlich muss man eingestehen, dass es für einen Richter heikel ist, zwischen dem „Thema“ eines Werkes und seinem „Geist“ zu unterscheiden. Noch dazu, wenn die Vorstellungen der Richter der ersten Instanz im klaren Gegensatz zu den Vorstellungen der Berufungsrichter stehen.


Trotzdem bleibt die Entscheidung des Berufungsgerichts überraschend. Gerade weil der Text und die Musik unverändert geblieben sind und weil auch die Regieanweisungen aus dem Originalwerk in der Neuinszenierung vollständig respektiert wurden. Laut dem Gericht hält sich Dmitri Tcherniakov an „die Themen Hoffnung, Märtyrer, Gnade und Übermittlung der Gnade sowie an das Thema der heiligen Kommunion – Themen, die den Autoren des Ursprungswerkes besonders wichtig waren.“ [4]


In der letzten Szene allerdings, so das Gericht, sei die Handlung auf eine Art und Weise verändert worden, die es dem Besucher, der das Stück zum ersten Mal sehe, unmöglich mache, die Guillotinegeräusche, die die Endszene untermalen, richtig verstehen zu können. Die Geräusche begleiten in Tcherniakovs Interpretation paradoxerweise jede Rettung einer Ordensschwester, währen in der Originalfassung jeder Laut des Guillotinemessers eine Hinrichtung bedeutet. Die neue Inszenierung macht die Guillotinegeräusche somit für den Besucher „unergründlich, unverständlich oder gar nicht wahrnehmbar“.[5] Das Gericht unterstreicht somit den Standpunkt, dass der Regisseur einer Neuinszenierung eines Opernwerkes, selbst wenn seine Stellung der eines Autors gleichkommt, ein Interpret des Originalwerkes bleibt und somit nur über eingeschränkte Möglichkeiten der Neuauslegung verfügt.


Darüber hinaus, so sieht es das Berufungsgericht, müssten die unwissenden Zuschauer geschützt werden. Ein überraschendes Argument in diesem Falle, denn gerade bei Dialoge des Carmélites handelt es sich doch um ein Werk, das sich an ein außerordentlich gut aufgeklärtes Publikum richtet. Das Bewusstsein, dass es sich bei Tcherniakovs Interpretation um eine sehr freie Neuinszenierung handelt sowie die Lektüre des Programmheftes oder des Opernlibrettos mit der Absicht die Unterschiede zu Poulencs Originalfassung von 1957 festzustellen, tragen darüber hinaus zur Aufklärung des Publikums bei.


Eben dieses Publikum könnte demnach genauso gut entscheiden, sich eine wesentlich konventionellere Interpretation des Werkes von Olivier Py im Theater der Champs Elysée in Paris anzuschauen. [6] Und eben dieses Publikum hat bereits bei Inszenierungen wie Fausts Verdammnis von Alvis Hermanis im Dezember 2015 an der Pariser Oper[7] oder Tosca von Luc Bordy an der Metropolitan Opera in New York[8] bewiesen, dass es in der Lage ist, sich über Interpretationen, die es für fraglich hält, selber zu beschweren.


Es stellt sich also nun die Frage nach der eigentlichen Absicht der Autoren des Originalwerkes, Bernanos und Poulenc. Michel Kohlhauer, der für die Neuverlegung des Siebengestirns (La Plédiade) zuständig ist, äußerte sich in der Radiosendung „Der Lauf der Geschichte“ zu dem Thema und erklärte, dass Georges Bernanos einer Neuinterpretation seines Werkes gar nicht zwangsläufig im Wege stand. [9] Auf Seite 252 der von Henri Hell verfassten Biographie[10] über Francis Poulenc steht darüber hinaus geschrieben, dass der Dialog der Karmelitinnen „eine innere Tragödie sei; die Französische Revolution sei nur das Hintergrundbild.“ Des Weiteren hatte Poulenc zu seiner Motivation, den Dialoge des Carmélites musikalisch zu untermalen, gesagt: „es war weniger die Geschichte der Karmelitinnen, die übrigens äußert erschütternd ist, die mich dazu bewegt hat, mich mit diesem Stück zu beschäftigen, sondern es war die wunderbare Prosa von Georges Bernanos, in ihrer Spiritualität und Ernsthaftigkeit. Was für mich genauso zählt wie die „nackte Angst“ ist der so bernanosische Gedanke der Kommunion und der Weitergabe der Gnade.“ [11]


Es zeigt sich also aufs Neue durch die Entscheidung des Pariser Gerichts, dass die französische Justiz einen extrem hohen Wert auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Autoren und ihrer Erben legt. Die Entscheidung folgt damit ganz dem Urteil, das bereits im Falle Asphalt Jungle/Quand la ville dort von John Huston gefällt worden war. [12]


2.Die harten Strafen des Berufungsgerichts – Der Anfang vom Ende dieser Neuinszenierung


Die vom Berufungsgericht verhängten Strafen sind im Hinblick auf die vorhergehende Rechtsprechung von besonderer Härte. Selbst wenn das französische Gericht die Aufführung der Neuinszenierung zwar nicht verboten hatte – es erklärte sich im Jahre 2012 nicht zuständig für das Verbieten einer Aufführung, die in Deutschland stattfand – so hatte es doch zwei wichtige Einschränkungen beschlossen:

  • Die Kommerzialisierung der Verfilmung der Neuinszenierung in elektronischer oder physischer Form wurde in ganz Frankreich verboten;

  • die Fernsehübertragung der Neuinszenierung durch den Sender MEZZO wurde ebenfalls strikt untersagt.

Dieses Urteil zeugt von besonderer Härte, wenn man bedenkt, dass es auf eine Forderung der Erben der Künstler eingeht. Dabei handelt es sich darüber hinaus um Erben in dritter Generation, die von Francis Poulenc noch nicht einmal explizit als Erben erwähnt worden waren. Letzterer hatte betont, dass ausschließlich seine Nichte Brigitte Manceaux, die kurz nach seinem Tod selbst verstarb, die entsprechenden Rechte erben sollte.

In der Regel sieht das Gericht außerdem davon ab, Neuinszenierungen zu verbieten – der Regisseur ist schließlich auch Autor – und findet stattdessen Alternativen zum Verbot. So kann es vorkommen, dass die Zuschauer im Falle einer stark abweichenden Inszenierung über die Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Autors in Kenntnis gesetzt werden und die Abweichung vom Regisseur ihnen gegenüber begründet werden muss.

Was Dmitri Tcherniakov betrifft, so geht dieser die Sache gelassen an. Noch im Mai präsentierte er seine Inszenierung von Pelléas et Mélisande an der Züricher Oper – eine stark abweichende Neuauflage des Originalwerkes von Debussy, die für den ein oder anderen Zuschauer wohl auch durchaus verwirrend sein mochte. [13]


[2] Urteil des Pariser Berufungsgerichts, 1. Kammer, 13 Oktober 2015, n°14/08900, Bernanos u. a. / Münchener Oper u. a. .

[3] Anregung von Antoine Guillot in seiner Chronik auf France Culture, vom 22 Oktober 2015.

[4] Urteil des Pariser Berufungsgerichts, 1. Kammer, 13 Oktober 2015, n°14/08900, Bernanos u. a. / Münchener Oper u. a..

[5] Ibid.

[6] Vorstellung ab 2013.

[9] Sendung « Lauf der Geschichte », von Jean Lebrun, vom 28 Oktober 2015 über Georges Bernanos.

[10] H. Hell « Francis Poulenc », 1978, Ed. Fayard.

[11] Brief von Francis Poulenc vom 16 Oktober 1961, veröffentlicht im „Cahiers de l’Herne“, Ausgabe von Januar 1963 über Georges Bernanos.

[12] Revisionsgericht, erste Kammer, 28 Mai 1991 : Bull. civ. I, n° 172 – D. 1993. 197, Kommentar von Raynard.


Marie-Avril Roux


18. Juli 2016


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