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  • AutorenbildMarie-Avril Roux Steinkühler

Befreiung der Stimme der Frauen

Debatte von allgemeinem Interesse in Frankreich, Verurteilung in Deutschland


Die #meetoo-Bewegung hat eine Welle von Denunziationen in den sozialen Netzwerken ausgelöst. Einige Zielpersonen gingen zum Gegenangriff über und verklagten die betroffenen Frauen wegen Übler Nachrede und Verletzung des Rechts am eigenen Bild. In Frankreich wurde Treu und Glauben in der Berufung anerkannt und durch die Entscheidung des Kassationsgerichts am Mittwoch, den 11. Mai, bestätigt. Obwohl die Oberstaatsanwältin argumentiert hatte, dass das Gleichgewicht zwischen die Freiheit der Meinungsäußerung und Üble Nachrede nicht gewahrt sei, und gefordert hatte, die Entscheidung des Berufungsgerichts aufzuheben, bestätigten die Richter des Kassationsgerichtshofs die Entscheidung, dass die Tweets von Sandra Muller und Ariane Fornia gegen Pierre Joxe und Eric Brion unter die Freiheit der Meinungsäußerung und das öffentliche Interesse fielen und nicht unter Üble Nachrede.


In erster Instanz wurde Sandra Muller, die Initiatorin der #BalanceTonPorc- Bewegung, wegen Übler Nachrede verurteilt. In völliger Antonymie stellt das Berufungsgericht das Recht auf freie Meinungsäußerung in den Vordergrund. Es ist der Ansicht, dass diese Grundfreiheit Teil einer Debatte von allgemeinem Interesse ist, die darauf abzielt, „sexuelle und nicht einvernehmliche Verhaltensweisen bestimmter Männer gegenüber Frauen anzuprangern“ [1].


Am 13. Oktober 2017 hatte Sandra Muller, die folgenden Nachrichten online veröffentlicht:

„#balancetonporc!!! Erzähl auch du mit Namen und Details von sexueller Belästigung, die du in deinem Job erlebt hast. Ich warte auf euch".

„ „Du hast große Brüste. Du bist meine Art von Frau. Ich werde dich die ganze Nacht kommen lassen“ Eric Brion Ex-Chef von Equidia #balancetonporc“.


Im Zuge dieser Bewegung beschuldigte Ariane Fornia, Schriftstellerin und Tochter des französischen Politikers Éric Besson, in ihrem Blog den ehemaligen Minister Pierre Joxe, sie während einer Veranstaltung in der Opéra Bastille sexuell belästigt zu haben.


Es ist nicht das erste Mal, dass bei einer Strafverfolgung wegen Übler Nachrede in ähnlichen Situationen ein Freispruch erteilt wurde. Mit zwei Urteilen vom 19. April 2019 hat das Pariser Strafgericht die Zeitung MEDIAPART freigestellt. Die berühmte Zeitung war wegen Übler Nachrede verklagt worden, weil sie am 2. Juni 2016 berichtet hatte, dass der Abgeordnete Denis Baupin, von mehreren Frauen der sexuellen Belästigung und sexuelle Angriffe beschuldigt wurde. In diesem Fall wurde Denis Baupin, der zum Zeitpunkt des Vorfalls Vizepräsident der französischen Assemblée nationale war, auch wegen eines unrechtmäßigen Verfahrens verurteilt[2].


Sollte die #metoo-Bewegung, in Frankreich #balancetonporc genannt wird, im Namen des öffentlichen Interesses und im Namen der Befreiung der Stimme der Frauen trotz der Verletzung der Rechte anderer geschützt werden?

Die Richter entschieden sich für die Verletzung der Üblen Nachrede durch die Verurteilung von Ariane Fornia (I). Aber auch diesmal war das Berufungsgericht der Ansicht, dass „die Verkündigung einer Verurteilung, selbst wenn sie nur um eine zivilrechtliche Verurteilung handelt, einen unangemessenen Verstoß gegen die Meinungsäußerungsfrei darstellen würde und könnte zu einer dissuasiven Wirkung auf die Ausübung dieser Freiheit bringen"[3], und das Kassationsgericht bestätigte diese Interpretation (II). Aus einer vergleichbaren Perspektive mit Deutschland ist es schließlich wichtig zu bemerken, dass die Abwägung der Grundrechte und damit in letzter Instanz die Qualifikation als Üble Nachrede vorherrschend ist (III).


I. DIE CHARAKTERISIERUNG DER ÃœBLEN NACHREDE DURCH DIE RICHTER DER ERSTEN UND ZWEITEN INSTANZ


Laut Artikel 29 des französischen Gesetzes von 1881 über die Pressefreiheit: „Jede Behauptung oder Unterstellung einer Tatsache, die die Ehre oder das Ansehen der Person oder der Körperschaft, der die Tatsache unterstellt wird, verletzt, ist eine üble Nachrede". Die üble Nachrede ist ein Straftatbestand, der mit einer Geldstrafe von bis zu 45.000 Euro geahndet wird.


Um die üble Nachrede zu qualifizieren, müssen fünf objektive Tatbestandmerkmale und ein subjektives Tatbestandmerkmal erfüllt sein:

- Eine Behauptung oder Unterstellung (1),

- Ãœber eine bestimmte Tatsache (2),

- Die die Ehre einer Person verletzt (3),

- Durch die Äußerung eindeutig identifiziert wird (4),

- Vom Anstifter öffentlich gemacht wird (5),

- Und eine Intention, die Ehre oder das Ansehen der Person oder der Körperschaft zu verletzen (6).


In einem ersten Urteil wird Sandra Muller zur Zahlung von 15.000 Euro Schadensersatz, auf der Grundlage des durch die üble Nachrede verursachten Schadens und 5.000 Euro auf der Grundlage des Artikels 700 der französischen Zivilprozessordnung – für die Verfahrenskosten – (Urteil vom 25. September 2019 -Tribunal de Grande Instance de PARIS (17ème chambre) - RG n° 18/00402).


Die Richter entschieden, dass es sich um eine üble Nachrede handelte und bestraften die Beklagte. Sie waren der Ansicht, dass die beiden gemeinsam gelesenen Tweets die Vorstellung verursachen, dass Sandra Muller an ihrem Arbeitsplatz von E. belästigt wurde. Diese Tatsachen sind jedoch nicht belegt. Belästigung liegt vor, wenn ein wiederholtes Verhalten nachgewiesen wird, das aufgrund seines erniedrigenden und demütigenden Charakters die Menschenwürde verletzt (Artikel L. 1153-1 des französischen Arbeitsgesetzbuchs). Daher wurde die Initiatorin der Bewegung wegen übler Nachrede verurteilt, da sie nicht in der Lage war, die in ihrem Tweet behaupteten Tatsachen zu beweisen.


Dieser Punkt wurde in der Berufung natürlich nicht in Frage gestellt. In der Tat ist Vorsicht ist besser als Nachsicht und auf Twitter kann man nicht einfach nur beschuldigen. Es ist notwendig, das Volksgericht zu vermeiden. Die gemeldeten Tatsachen fallen eher unter den Tatbestand der sexistischen Beleidigung als unten den Tatbestand der Belästigung, wie er durch das französische Gesetz „Loi Schiappa“ vom 3. August 2018 eingeführt wurde.


Im zweiten Urteil vom 22. Januar 2020 verurteilten die Richter Ariane Fornia zur Zahlung einen symbolischen Euro Schadensersatz an Pierre Joxe. Sie wurde außerdem zur Zahlung von 3.000 Euro gemäß Artikel 700 der Zivilprozessordnung verurteilt, um die Verfahrenskosten des ehemaligen Ministers auszugleichen [4].


Das Kassationsgericht war der Meinung, dass die von Ariane Fornia beigebrachten Beweisstücke nicht ausreichend waren, um den Wahrheitsgehalt der in ihrem Blog gemachten Äußerungen zu beweisen. Schließlich lehnten sie es ab, die Beklagte zu entlasten, da „sie jedoch über Elemente verfügen musste, die es ihr ermöglichten, die Tatsachen, die sie öffentlich anprangerte, abzustützen".


Farid Belacel sagte: „Durch den Schutz der Rechte „Schweine“, wird die Freiheit der Frauen, sie zu beschuldigen, gewahrt“. Der Artikel 4 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 besagt, dass „die Freiheit darin besteht, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet“. Es ist daher Aufgabe des Gesetzes, einen Rahmen festzulegen, in dem sich die Opfer äußern können, ohne dass dies für sie negative Folgen hat. Es wäre tatsächlich sinnvoll, ein #metoo ohne Auswirkungen zu gewährleisten, bei dem Frauen ihre Meinung äußern können, ohne unter üble Nachrede Klage zu leiden[5].


II. DIE PRÄVALENZ DES RECHTS AUF MEINUNGSÄUSSERUNGSFREIHEIT IM RAHMEN EINER DEBATTE VON ALLGEMEINEM INTERESSE


Die Richter des obersten Gerichts folgen der Meinung der Berufungsrichter und sind der Ansicht, dass die beiden Frauen in Treu und Glauben handelten und nicht verurteilt werden können (A). Dies gilt umso mehr, als das zugrunde liegende Ziel der Schutz des allgemeinen Interesses ist (B).


A. Die Anerkennung von Treu und Glauben durch die Richter


Obwohl die beiden Urteile des Berufungsgerichts die üble Nachrede charakterisierten, stellten sie in beiden Fällen die Treu und Glauben fest. Treu und Glauben ermöglicht es, sich im Fall von übler Nachrede zu entlasten. Gemäß Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind die Kriterien für Treu und Glauben folgende:

- Verfolgung eines legitimen Ziels (1),

- Keine persönlichen Animositäten (2),

- Ernsthaftigkeit der Untersuchung (3)

- Und Vorsicht beim Ausdruck (4).


Zwei der Kriterien sind jedoch besonders mangelhaft: die Ernsthaftigkeit der Untersuchung und die Vorsicht in der Ausdrucksweise. Sandra Muller nennt das „Schwein“ direkt und ihre Äußerungen sind nicht gemessen, insbesondere in Bezug auf die Charakterisierung der sexuellen Belästigung, wie sie im französischen Arbeitsgesetzbuch definiert ist.


Außerdem ist die Aussage von Ariane Fornias falsch, es gibt zahlreiche Fehler wie den Namen der gespielten Oper, die Tatsache, dass es eine Pause gab, die Vokalisen der Sängerin im zweiten Akt, der Platzwechsel in der Pause, die Ankunft von Herrn Besson in der Pause...


Dennoch haben die Richter des Berufungsgerichts dank einer Lockerung der Kriterien für Treu und Glauben zweimal die Prävalenz von Treu und Glauben im Namen des allgemeinen Interesses anerkannt. Der Begriff des allgemeinen Interesses ergibt sich aus der Auslegung von Artikel 10 EMRK, wie er vom EGMR interpretiert wird. Er kann definiert werden als „Fragen, die die Öffentlichkeit in einem Maße berühren, dass sie sich berechtigterweise dafür interessieren kann, die ihre Aufmerksamkeit wecken oder sie erheblich beschäftigen, insbesondere weil sie das Wohlergehen der Bürger oder das Leben der Gemeinschaft betreffen. Dies gilt auch für Fragen, die wahrscheinlich eine starke Kontroverse auslösen, ein wichtiges soziales Thema betreffen oder sich auf ein Problem beziehen, von dem die Öffentlichkeit ein Interesse daran hätte, informiert zu werden."[6]


Im vorliegenden Fall sind die Äußerungen der Beklagten jedoch im Zusammenhang mit dem Fall WEINSTEIN und den darauf folgenden Denunziationen in den Netzwerken zu sehen, insbesondere unter #metoo, #myharveyweinsteim und #balancetonporc. Es handelt sich um eine soziale Bewegung, die Frauen dazu ermutigt hat, ihre Stimme zu erheben, und die es ermöglicht hat, alle Arten von sexueller Gewalt zu denunzieren, vom Ansprechen über Belästigung bis hin zu Übergriffen und Vergewaltigung. Sie stellt daher sowohl für die Richter der ersten Instanz als auch für die Richter des Berufungsgerichts eine Bewegung von allgemeinem Interesse dar, die das Wohlergehen der Bürger und das Leben in der Gemeinschaft betrifft.


B. Die Existenz einer Debatte von allgemeinem Interesse


"Das Gericht scheint in der Realität eher den Begriff der Debatte von allgemeinem Interesse zu verwenden, um die Anwendung der klassischen Kriterien von Treu und Glauben abzuschwächen, wenn die Äußerungen Teil dieser Debatte sind."[7]


Durch die Verurteilung der Äußerungen von Frau Muller und Frau Fornia besteht die Gefahr, dass die Äußerungen aller Frauen verurteilt werden, und diese Gefahr darf nicht eingegangen werden. Diese Bewegung muss unterstützt werden, aber die rechtlichen und faktischen Folgen dieser Entscheidungen sind nicht zu vernachlässigen.


Der Fall von Eric Brion ist ein perfektes Beispiel dafür. Nach dem Tweet von Sandra Müller wurde er sozial geächtet, verlor seinen Job und behauptete, an einer depressiven Störung gelitten zu haben.


In rechtlicher Hinsicht führen diese Entscheidungen zu Rechtsunsicherheit. In der Tat führt die Interpretation des Begriffs des allgemeinen Interesses, wie er vom EGMR definiert wird, dazu, dass die Anwendung des Gesetzes über üble Nachrede de facto ausgeschlossen wird. Nun erfordert eine Nichtanwendung des Rechts umfassende Erklärungen, die in den Urteilen der Richter des Berufungsgerichts schmerzlich fehlen.


III. Und in Deutschland?


In Deutschland sind die Gerichte der Ansicht, dass man gemäß Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes über sein Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung verfügt. Dieses Recht muss gegen das Recht auf Schutz der Persönlichkeit abgewogen werden, das im selben Grundgesetz in den Artikeln 1 und 2 verankert ist. Da es in solchen Fällen nicht um die Äußerung einer Meinung, sondern um die Darstellung von Tatsachen geht, verlangt die Rechtsprechung, dass der Beweis für die Realität der fraglichen Tatsache erbracht wird. Die eidesstattlichen Erklärungen spielen bei einstweiligen Verfügungen eine wesentliche Rolle, da sie die unbegründeten Vorwürfe, die eine Person online veröffentlicht hat, "glaubhaft" machen können. Diese "Glaubhaftmachung" reicht im Eilverfahren aus, aber danach hört der Richter die Parteien an, um zu versuchen, die Wahrheit zu erkennen...


Wenn ein Bild zusammen mit den Nachrichten im Internet veröffentlicht wird, ist der Schutz des Klägers noch stärker. Denn die Veröffentlichung eines Bildes einer Person ist nach § 22 KUG grundsätzlich nur mit deren Einwilligung möglich, es sei denn, es besteht ein Informationsinteresse an der Verbreitung des betreffenden Bildes. Auch hier wird eine Abwägung zwischen den Interessen der abgebildeten Person auf der einen Seite und den Interessen des Informationsbedürfnisses und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite vorgenommen. Für die Zwecke dieser Interpretation wird der Text, der die Abbildung der Person begleitet, berücksichtigt. Im Allgemeinen hat der Schutz der Persönlichkeit und des Bildes der abgebildeten Person Vorrang vor der Meinungsfreiheit, wenn keine bewiesenen und nachgewiesenen Tatsachen vorliegen.

Nach Cédric Michalski gibt es ein faktisches Kriterium, um das Bestehen eines allgemeinen Interesses zu bestimmen. Mehrere Kategorien werden immer wieder genannt, in denen der EGMR der Meinungsfreiheit und dem allgemeinen Interesse Vorrang vor der Freiheit anderer eingeräumt hat[8] :

- Politische Debatten;

- Debatten über die hoheitlichen Funktionen des Staates, einschließlich der Rechtsmacht;

- Fragen der öffentlichen Gesundheit;

- Die Eigenschaft der Personen, auf die sich die Informationen beziehen;

- Und eine „soziale“ oder „heterogene“ Kategorie, die sich sowohl auf Doping im Sport[9], als auch auf die Robbenjagd[10] bezieht...


Schließlich stellt sich noch eine letzte Frage: Handelt es sich um Einzelfälle, die mit der öffentlichen Persönlichkeit der betroffenen Frauen zusammenhängen? Wird die Ausnahme der Treu und Glauben auf alle Frauen Anwendung finden, auch auf die unbekanntesten, die die Angriffe auf sie anzeigen?


[1] Cour d'appel de Paris, 31. März 2021, Nr. 19/19081

[2] Cour d'appel de Paris, 14. April 2021, Nr. 20/02248

[3] DELÉAN Michel, « La condamnation de Denis Baupin pour procédure abusive est définitive » in MEDIAPART, Veröffentlicht am 30. April 2019.

[4] Urteil vom 22. Januar 2020 -TJ hors JAF, JEX, JLD, J.EXPRO, JCP de PARIS - RG n° 18/01226

[5] BELACEL Farid, « C'est en protégeant les droits des « cochons » que l'on préservera la liberté des femmes de les accuser » in LE MONDE, Veröffentlicht am 28. Juni 2018.

[6] EGMR, 10. Nov. 2015, Couderc und Hachette Filipacchi associés gegen Frankreich [GC], Nr. 40454/07, § 103

[7] N. DROIN. « Diffamation et débat d’intérêt général : la bonne foi plie, mais ne rompt pas » Recueil Dalloz 2015 S. 931.

[8] C. Michalski, « Liberté d'expression et débat d'intérêt général », AJ Pénal 2013. 19

[9] EGMR, sect. I, 7. Mai 2002, Nr. 46311/99, McVicar vs. Vereinigtes Königreich, § 82

[10] EGMR, Gde. ch. Nr. 21980/93, Bladet Tromsø und Stensaas gegen Norwegen, 20. Mai 1999.


Marie-Avril Roux Steinkühler & Atalante Gabelli


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